Stellungnahmen

Suspendierungen, Gewalt und Förderklassen – der Versuch eines Problemaufrisses

ein Kommentar von Bernhard Lahner, er arbeitet in einer Förderklasse, Bildungsaktivist

In den letzten Wochen wurde oft über Gewalt an Schulen und den darauffolgenden bildungspolitischen Lösungen diskutiert. Für all jene, die im System sind, läuft dieser Diskurs leider in die falsche Richtung. Grund dafür ist, dass es zum Beispiel Förderklassen, also Kleingruppenklassen mit maximal 6 Schüler:innen und 2 Lehrer:innen, schon seit Jahrzehnten gibt und auch dieses Setting ist oft nicht mehr handlebar.

Die Genese der “SES – Schwersterziehbarenschule” und Förderklasse

Schon seit Jahrzehnten wurden Schüler:innen, die aufgrund sozial-emotionaler Beeinträchtigungen, Traumas, Misshandlungen oder psychischen Erkrankungen, die in einer Regelklasse mit 25 Mitschüler:innen überfordert waren, in Kleingruppen beschult. Ganz ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Eine Kommission aus Expert:innen berät regelmäßig über einzelene Schüler:innen, um ihnen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen.

In diesem kleinen, fast schon familiären Setting, sollte es mehr Zeit für die individuelle Verarbeitung der eigenen Geschichte der Schüler:innen geben. Unterstützung kommt von Psychagog:innen (Lehrer:innen mit psychologischer Zusatzausbildung) und ein intensiver Austausch mit den Eltern ist Pflicht. Des Weiteren wurde, wenn nicht bereits geschehen, die Schulpsychologie herangezogen und es wird versucht, weitere außerschulische Beratungsangebote den Betroffenen und den Erziehungsberechtigten schmackhaft zu machen.

Damals gab es für Pädagog:innen, die in diesem Bereich arbeiteten, eine eigene Ausbildung an der Pädagogischen Akademie. Diese spezielle Ausbildung gibt es so nicht mehr und wird heute an den Hochschulverbünden individuell mit Schwerpunktseminaren angeboten.

Der Status quo

Wie die 90iger so waren, können sich die älteren unter uns noch vorstellen. Wir telefonierten heimlich mit unserem Crush mit dem Drehscheibentelefon der Großeltern und machten uns Dates bei der einen großen Linde im Wald aus. Ja, damals war alles besser. Natürlich nicht, aber es soll die Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zeigen, zu dem Zeitpunkt, als offenbar Bedarf für “Kleingruppenklassen” bestand.

Heute sind wir überfordert mit der technologischen Entwicklung von Computerspielen, Smartphones, KI und Co. bei gleichbleibendem Lehrplan. Hier wird laufend additiv ergänzt und den Schule alle möglichen Schwachsinnigkeiten aufoktroyiert.

Das wir gesellschaftlich seit Jahrzehnten einen immer schnelleren Wandel u.a. durch Innovationen und Technik erleben ist allseits bekannt. Das wir von einer Industriellen in eine Dienstleistungsgesellschaft schlittern, merken wir auch seit Jahren mit Blick auf veröffentlichte Jobangebote.

Erschwerend zur Entwicklung der kommenden Generationen kommen Finanz- und Gesundheitskrisen, Kriege und immer gewalttätigere Sprache im politischen Diskurs durch Rechtsextreme, die TikTok, Insta und Telegram bestens beherrschen.

Unsere, schon sehr vulnerablen Jugendlichen, springen auf diese Influencer nicht nur an, sie halten das Gesagte auch oft für das einzig Wahre und Richtige. Die Gründe sind vielfältig, aber was sich aus der Praxis beobachten lässt, ist, dass ein Großteil dieser Jugendlichen das Vertrauen in demokratische Institutionen schon verloren hat und auch keine Ressourcen für zusätzliche Informationsbeschaffung oder eine angemessene Reflexion hat. Angefangen in der Kindergruppe, in der sie mit ihrem “aufgeweckten” Verhalten auffallen, weiter in der Volksschule, in der sie bei erhöhten Bewegungsbedarf abgestraft und zum Sitzen gezwungen werden. Dann in außerschulischen Bereichen wie Gesundheitseinrichtungen, in denen sie lange durchgetestet werden, ein Befund ausgestellt wird und danach nichts mehr passiert. Die Schulen werden allein gelassen. Schon einzelne Kinder und Jugendliche können in der Volks- oder Mittelschule ganze Klasse “sprengen”. Mobbing und Gewalt ist oft die einzige Strategie, die bei psychisch vulnerablen Personen ins Außen kommt, um die inneren Dämonen bezwingen zu können. Jetzt beginnt die letzte Maßnahme, die Schule machen kann. Sie schützt die restlichen Kinder, indem sie den “Rabauken” suspendiert – und alleine lässt. In unserer veralteten Logik sperren wir “nicht-passfähige Personen”, wie auch Menschen mit Behinderungen, einfach weg und überlassen sie sich selbst.

Die Negativspirale dreht sich immer schneller und schneller, weil alle Beteiligten, also Eltern, Pädagog:innen und das betroffene Kind, in diesem System überfordert ist und es keinerlei Unterstützung gibt. Nach maximal 4 Wochen Suspendierung beginnen die Muster von Neuem oder werden schlimmer, weil der/die betroffene Schüler:in mit sich alleine gelassen wird oder sich mit anderen suspendierten Kindern im öffentlichen Raum trifft.

Wir brauchen ein “koste es was es wolle an den Pflichtschulen” – und zwar JETZT

Wirtschaft und Politik beklagen Fachkräftemangel und wir wundern uns, warum die Schere zwischen arm und reich größer wird und sich der “Mittelstand” in Luft auflöst.

Für die kapitalistische Kaufkraftstärkung und Wirtschaftsförderung werden Millionen, wenn nicht Milliarden in die Hand genommen und der soziale Bereich wird auf allen Ebenen vernachlässigt und sich selbst überlassen.

“Koste es, was es wolle” muss sofort für den Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich gelten. Wir brauchen in all diesen Bereichen interdisziplinäre und multiprofessionelle Teams mit kleinstmöglicher Bürokratie und größtmöglicher Hilfe. Mit FISCH (Familie in Schulen) wird seit wenigen Jahren, Schuleinsteiger:innen und deren Eltern bei Verhaltensauffälligkeiten bestmögliche Unterstützung angeboten. Psychisch kranke Kinder und Jugendliche, bei denen oft eine gute Diagnostik fehlt und Kleinkriminalität, Misshandlung und Gewalt an der Tagesordnung steht, werden allein gelassen, genauso wie die Professionellen in Krisenzentren, WGs, Parksozialarbeiter:innen, Pädagog:innen und außerschulische Bildungseinrichtungen.

Es braucht eine massive bildungspolitische Offensive im Bereich der sozial-emotionalen und psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Wege aus der Krise ist ein kleiner Puzzlebaustein, aber verpufft wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Förderklassen brauchen vor Ort Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Therapeut:innen, Ergotherapeut:innen, etc. Alle Professionist:innen, die auf Kinder und Jugendliche positiv einwirken können, um sie bestmöglich zu unterstützen und von Suchtkrankheiten, Gefängnis und Arbeitslosigkeit zu bewahren. Da müssen wir investieren und den Fokus legen.

Die Finger in die Wunde legen

Alle Entscheidungsträger:innen, alle im Sozialbereich tätigen, alle Betroffenen wissen das.

Jeder von uns kennt jemanden, in Lebenskrisen, in depressiven Verstimmungen, mit Persönlichkeitsstörungen, mit mentaler Ungesundheit. Wir alle kennen und wissen es. Und auch wir alle dulden diesen Zustand, sehen bewusst weg und putzen uns mit Glaubenssätzen wie, “das sind nur wenige Menschen”, etc. ab. Aber nein, es sind nicht wenige Menschen und es werden täglich mehr. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen, der nächsten Generationen. Wir müssen den Finger in die Wunde legen und uns als Gesellschaft an der Gesellschaft entschuldigen und endlich die richtigen und notwendigen Maßnahmen setzen.

Es ist 5 nach 12 und alle politischen Maßnahmen, Ideen und bereitgestellten Gelder sind zu wenig. Es braucht sofort einen nationalen Schulterschluss im Sozial, Bildungs- und Gesundheitsbereich. Es braucht Vernetzung, Austausch und konkrete Verbesserungen. Wir können nicht zulassen, dass die einzige Antwort gegenüber vulnerablen Gruppen das Wegsperren ist. Wir haben hier und jetzt die Verantwortung und müssen uns dieser bewusst sein.

Bernhard Lahner BEd, Förderklassenpädagoge im sozial-emotionalen Bereich, Bildungsaktivist