Albert Camus wurde am 7. November 1913 geboren.
Anlässlich seines 100. Geburtstages wurden viele Beiträge veröffentlicht, wir bringen hier einen Essay unserer Kollegin Ilse Seifert:
Obwohl ich vieles nicht verstand und mir seine Welt so fern und fremd war, las ich im
Alter von sechzehn Jahren alle Bücher von Camus. Seine Texte, die intensive
Atmosphäre erzeugen, beeindruckten mich. Für die Matura wandte ich mich
Hermann Hesse zu und danach unzähligen anderen Autor:innen. Camus vergaß ich.
So sehr ich damals in Bann gezogen war, so wenig erinnere ich heute Details. Die
grelle algerische Sonne am Meeresufer allerdings kann ich noch immer spüren.
Dass ein Mann am ersten Satz seines Romans scheiterte, faszinierte mich. Er wollte
über ein weißes am Strand galoppierendes Pferd schreiben. Dieses Stocken, Nicht-
weiter-gehen-, Nicht-loslassen-Können verstand ich damals nicht. Warum konnte er
seinen Perfektionismus nicht aufgeben und einfach weiterschreiben und später an
seinem Satz feilen? Ich selbst begann danach meinen labyrinthischen Weg zu
gehen.
Vor kurzem schaute ich die Dokumentation Albert Camus – Eine Ikone des
Widerstands (Regie: Fabrice Gardel & Mathieu Weschler, 2020), weil ich die
Ankündigung im Programm las und mich erinnern wollte. Für viele Menschen war
Covid der Anlass, Die Pest zu lesen, wie ich erfuhr. Für mich waren dieser Film und
die Situation von Israel und Palästina seit dem 7. Oktober 2023 Anlass, mich mit
Camus zu beschäftigen. Was dachte er während des Algerienkrieges und danach
über Krieg?
Am besten, entscheide ich, lese ich nach mehr als 50 Jahren nun alle seine Werke
nochmals; in deutscher Übersetzung, da ich nicht französisch spreche, und mir
dessen bewusst, dass eine Übersetzung eine Übersetzung ist. Ich möchte wissen,
welche Standpunkte er einnahm, womit ich mit ihm übereinstimme, womit nicht und
auf welche neuen Gedanken er mich bringen wird. Ich schreibe keine
wissenschaftliche Analyse oder Interpretation. Ich schreibe über meine Resonanz auf
Camus‘ Gedanken und Werte.
Dem Geschriebenen möchte ich eine lesbare Struktur geben. So wie ein
Ariadnefaden in die Labyrinth-Struktur passt. Das Bild einer Halskette kam mir in den
Sinn. Eine Halskette, die eine Gedankenkette ist, die die drei Themenstränge
Absurdes, Revolte und Frieden miteinander verflechtet. An dieser Gedankenkette3
sind weitere Gedanken wie Anhänger befestigt, die unabhängig voneinander sind
und doch in Beziehung zueinander sind. Manche sind auch untrennbar mitverwoben.
Diese Halskette fühlt sich auf meiner Haut leicht und angenehm an. Sie kann für
andere, wenn sie zu eng anliegt, die Luft nehmen und wenn sie zu locker anliegt, bei
einer Beugebewegung zu Boden fallen.
Ich erzähle keine Geschichte. Ich beschreibe meinen nomadischen Blick auf das
Machen der Kette wie auch auf die gesamte fertige Kette und auf die vielen
Teilstücke, die ich einmal oder mehrmals aus unterschiedlicher Perspektive
betrachte. Meine Gedankenkette lässt sich unterschiedlich er- und begreifen. Ich lege
sie untertags an. Bewegtes und Unbewegtes fallen zusammen wie Freude mit
Entdecktem, wie Zeit und Raum, wie Leere und Fülle. Ich lege sie ab, ehe ich in
meine Träume reise und dort wieder begegne.
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