Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt – Wie der Westen reichlich sonderbarund besonders reich wurde
Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser
Gebunden, 918 Seiten
Suhrkamp 2020
€ 35,-
ISBN 978-3-518-58780-5
Abb. https://www.suhrkamp.de/buch/joseph-henrich-die-seltsamsten-menschen-der-welt-t-9783518587805
Der Autor Joseph Henrich, 1968 geboren, war Professor für Kultur, Kognition und Koevolution an der University of British Columbia und ist seit einigen Jahren Direktor und Professor des Department of Human Evolutionary Biology der Harvard University.
Ich schicke voraus: Von ihm habe ich mehr Differenzierungsfähigkeit erwartet.
Er beschreibt anhand von Ergebnissen psychologischer Experimente und Feldforschungen sowie historischer und soziologischer Daten, wie die westliche Kultur und ihre Menschen zu dem wurden, was sie heute sind: die seltsamsten Menschen der Welt. Das Adjektiv „seltsam“ ist in meinen Augen wirklich nicht das zutreffendste und aussagekräftigste.
Menschliches Denken ist aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse als vielfältig und divers zu sehen. Joseph Henrich bezeichnet „uns“ als WEIRD (Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic). Wie schwierig es ist, die eigene Kultur zu reflektieren, wird auch hier augenscheinlich, denn Henrich hat das P vergessen, das für patriarchal steht. Das Wort „Gender“, „Patrarchat“ und „Feminismus“ sind auf keiner Seite im Buch anzutreffen.
Weiters bedeutet sein Educated, dass alles anderen nicht educated sind, was ich als Ignoranz anderer Kulturen und ihrer Werte für Educated interpretiere. Ich modifiziere in WIRPD: Western, Industrialized, Rich, Patriachal and Democratic. Doch Stop! Wie ist Rich zu verstehen? Nur im Vergleich zu anderen Staaten wie Ägypten, denn 2022 sind in Österreich 17,0% der Bevölkerung (1.519.000 Menschen) armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, 14,7% armutsgefährdet und 2,4% „erheblich materiell depriviert“.[1] Zusammengefasst sind 34,1% nicht reich. Die Vermögensverteilung ist sehr ungleich! „Die reichsten 5% aller Haushalte verfügen über beinahe die Hälfte des gesamten privaten Vermögens. Knapp 190.000 Haushalte besitzen zusammen fast 500 Milliarden Euro. Jeder dieser Haushalte nennt zumindest eine knappe Million Euro sein Eigen, damit gibt es in Österreich rund 5% Vermögensmillionäre. Für die vermögensärmere Hälfte der privaten Haushalte bleiben weniger als 5% des gesamten Bruttovermögens, oder rund 40 Mrd. Euro. Im Schnitt haben diese Haushalte ein Bruttovermögen von 22.000 Euro.“[2]
Darum modifiziere ich weiter in WIrRPD, wobei r für relativ steht. Und immer noch kommen die ungleichen Machtverhältnisse nicht zum Ausdruck, der Westen dominiert immer noch, auch wenn China an Dominanz gewann. Western, Industrialized, Dominance, relativ Rich, Patriachal and Democratic – WIDrRPD.
Für wissenschaftliche Arbeiten ist vielleicht „traditionell patriarchal“ ausreichend und für das kritische Hinterfragen aller Machtverhältnisse und Diskriminierungen das passende Wort: Feministisch.
Henrich wertet und bewertet, wenn er Menschen westlicher Kultur einen höheren Grad an analytischem Denken, Individualismus, Fleiß, Ehrlichkeit und Selbstbeherrschung zuordnet und diese Eigenschaften als eine Höherentwicklung bezeichnet. Für ihn sind das christlichem Monogamie-Gebot und Inzest-Verbot ausschlaggebend, weil sich dadurch vorherige Clanstrukturen auflösten. Auf das Thema „Geschlecht“ geht er beschreibend ein, z.B.: „Die in vielen Gesellschaften verbreitete Adoption erlaubt es Familien ohne Erben des entsprechenden Geschlechts, einfach einen (meist mit ihnen verwandten) Kandidaten zu adoptieren; die polygyne Ehe ermöglicht es Männern, die mit ihrer ersten Frau keinen Erben gezeugt haben, sich einfach eine zweite oder dritte Frau zu nehmen und es weiter zu versuchen, und in monogamen Gesellschaften wie etwa der römischen konnte man sich scheiden lassen und einen (hoffentlich) fruchtbareren Partner ehelichen.“ (S 257) und bringt auch Untersuchungsergebnisse z.B. wie die Wahrnehmung des Geschlechterverhältnisses bei den Männern ihre Entscheidungsfindung beeinflusst. (S 386) Irritierend ist die Aussage: „Zugleich führen die zunehmende Gleichstellung
der Geschlechter und das steigende Bildungsniveau zu einer Umstrukturierung und Verkleinerung unserer Familien.“ (S691) Sie schließt alle anderen Möglichkeiten aus. Eine Interpretation und inhaltliche Bezugnahme zu Gender und dem Werden der westlichen Kultur vermisse ich. Ebenso vermisse ich die dunklen Seiten westlicher Kultur, wie Kolonialismus, Imperialismus, Völkermorde und Femizide. Sie werden großzügig ausgeblendet. Es gibt noch weitere zu diskutierende Punkte – das ist die Stärke des Buches. Wer keine Diskussionsgrundlage oder Untersuchungsergebnisse sucht, sondern wirklich neue innovative Denkmodelle, greift besser zum Buch von Graeber und Wengrow „Anfänge“.
August 2022
Rezension
Ilse M. Seifried, BEd MA
https://www.i-m-seifried.at
[1] https://www.armutskonferenz.at/armut-in-oesterreich/aktuelle-armuts-und-verteilungszahlen.html
[2] https://www.arbeiterkammer.at/service/studien/wirtschaftundpolitik/studien/Reichtum_in_Zahlen.html