Annabelle Hirsch: Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten
Ein Spaziergang durch die weibliche Geschichte
Der Buchtitel ist ansprechend und machte mich neugierig. Um welche 100 Dinge könnte es sich dabei handeln? Die Autorin Annabelle Hirsch, 1986 geboren, studierte Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Philosophie und arbeitet als freie Journalistin, Übersetzerin und schreibt Kurzgeschichten
Von den 100 aufgelisteten Dingen nenne ich exemplarisch das erste, fünfzigste und letzte Ding, um anhand konkreter Beispiele das Buch zu besprechen und auch, um nicht mehr zu verraten.
Am Beginn steht ein Verheilter Oberschenkelknochen, ca 30 000 v. Chr. Er erzählt nicht wie in Geschichtsbüchern auch heute noch tradiert wird, Krieg und Kampf seien Ursprung unserer Zivilisation oder wie TV-Dokus Rollenklischees wären schon immer Realität gewesen, sondern unsere Fähigkeit, uns nicht mehr nur um uns selbst, sondern auch um andere zu sorgen, wie Magret Mead feststellte.
Hirsch ist also Perspektivenwechsel wichtig. Sie schreibt in ihrer Einleitung: „Frauen waren immer da und haben immer etwas beigetragen. Die Objekte, mit denen man sie gerne verwechselte und mit denen sie sich ihre Räume teilten, den intimen, aber auch den öffentlichen, zeugen davon: Von dieser zu lange übersehenen und als unwichtig, nebensächlich, belanglos ignorierten Seite der Geschichte. Diese Gegenstände verweisen nicht auf die trommelnde große Geschichte, zumindest nicht immer, sondern mehr auf Details, Anekdoten, Dingen, die erst in der Dauer, durch Beharrlichkeit an Bedeutung gewannen. Sie erzählen die Welt anders.“
Mit Leichtigkeit und spannende erzählt Hirsch, lässt staunen und interessiert weiterlesen. Über ihre Auswahl der 100 Dinge und damit auch über sich selbst, schreibt sie: „Die Auswahl dieser Dinge ist absolut subjektiv. Es ist nicht die einer Historikerin, sondern die einer Frau, die Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Frankreich und Deutschland aufgewachsen ist, und Frauen, ihre Geschichten und ihre Gegenstände liebt. Die einer Frau, die ein Faible für das Unwichtige und Anekdotische hat und geistig gerne in der Vergangenheit herumspaziert. Der Fokus liegt auf der Geschichte der Frauen des Westens, nicht aus Desinteresse am Rest der Welt, sondern im Gegenteil, weil es mir unehrlich erschienen wäre, mich mit diesem intuitiven und subjektiven Ansatz an Kulturkreise heranzuwagen, die mir zu fremd sind, als dass ich ihnen gerecht werden könnte.“
Hirsch vermittelt sehr gut die gesellschaftspolitische Atmosphäre, wo dies wichtig ist. In Blatt aus Iconographie photographique de la salpêtrière, 1878 tut sie dies und beendet die Geschichte über Augustine, Fotomodell und Darstellerin der Hysterie mit den Worten: „Die Grenze zwischen Theater und Wissenschaft verlief hier fließend, die Frage ist, welche Rolle die Frauen darin spielten: Kann es sein, dass sie ihre Posen bewusst übertrieben oder solche einnahmen, die angeblich zu ihrem Leiden passten, nur um vor den Fotoapparat oder gar auf die Bühne geladen zu werden? Ließen sie sich in die von Charcot erschaffenen Bilder zwängen, um berühmt zu werden? Haben sie damit zur Erfindung der »Hysterie« beigetragen, einem Leiden, für das es heute ein Dutzend spezifische Diagnosen gibt? Man weiß es nicht. Augustine zumindest muss es irgendwann gereicht haben. 1880 flüchtete sie (als Mann verkleidet!) aus der Salpêtrière. Hundert Jahre später verschwand auch der Begriff der Hysterie aus den Diagnosehandbüchern psychischer Störungen.“
Die letzte Geschichte, das 100. Ding, ist PUSSY HAT, 2017. Die Autorin beschreibt die Mütze, um die es geht, so: „Wenn man ein klein bisschen übertreiben wollte, könnte man die Kopfbedeckung mit der phrygischen Mütze der Französischen Revolution vergleichen: Beide wurden von jenen getragen, die das bestehende Machtgefüge zerschlagen und für mehr Gerechtigkeit kämpfen wollten, nur war das Tragen der phrygischen Mütze den Frauen untersagt, wohingegen der Pussy Hat von Frauen für Frauen entworfen worden war, allerdings auch allen anderen aufgesetzt werden durfte und sollte.“ Hirsch interpretiert diese Mütze im Sinne der Erfinderinnen, für die die Mütze für die Worte stand: »Du bist nicht allein. Wir sind ganz viele, und wir zeigen uns.« Die Mütze stimmt auf die einige Monate nach dem ersten Women’s March, im Oktober 2017, #Metoo-Bewegung ein. Diese Bewegung sagt genau dasselbe und Hirsch schreibt: „Gewalt und Machtmissbrauch gibt es nicht nur in Hollywood, nicht nur ganz oben oder ganz unten, sondern überall. Du bist nicht allein. Wir sind ganz viele. Und wir geben uns von nun an zu erkennen. Als das Jahr zu Ende ging, sah man auf dem Cover der Times bezeichnenderweise statt des allein mit seinem großen Schatten dastehenden Hütchens ein Gruppenfoto: Frauen, die durch ihre Aussagen zum Fall des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein beigetragen und die globale #Metoo-Welle angestoßen hatten. Es war der Beginn einer neuen Revolution.“
Hirsch beendet ihr Buch mit einem Aufruf: „Diese Geschichte der Frauen ist weder vollständig noch abschließend und möchte das auch nicht sein. Sie will vor allem Lust darauf machen, weiterzugraben, Dinge aus dem Regal der Geschichte hervorzuholen, nach Details, Anekdoten, all den angeblichen Nebensächlichkeiten zu suchen und sinnliche Verbindungen zu finden, zur noch viel zu unbekannten Welt der Frauen der Vergangenheit.“
Das Buch von Annabelle Hirsch ist wirklich für alle lesenswert: Für Lehrer:innen, weil es interdisziplinär ist und Input für ihren Unterricht ist. Für Eltern zur eigenen Weiterbildung, zum Vergnügen und als Diskussionsgrundlage. Für Schüler:innen, weil immer wieder Bezüge zur Gegenwart aufgezeigt werden. Für alle anderen ebenso.
Die Autorin gibt mit ihrem Buch einen sehr anregenden Impuls für Einzel-, Klassen- und Schulprojekte zum Buch und auch, um weitere 100 Dinge selbst auszugraben und zu entdecken.
Hardcover
416 Seiten
Kain & Aber 2022
ISBN: 978-3-0369-5880-4
€ 37,-
Februar 2023
Rezension
Ilse M. Seifried, MA
https://www.i-m-seifried.at