Rezensionen

Der Onkel

Michael Ostrowski: Der Onkel

Am Opernball 2023 wurde Ostrowski interviewt, der nicht nur ein politisches Statement abgab, sondern auch sein Buch bewarb. So erfuhr ich davon, wollte es lesen und las die 320 Seiten wenig später mit Vergnügen und Staunen.

Die Geschichte erzählt vom Beziehungsgeflecht zwischen Gloria, den beiden Brüdern Mike und Sandro, den Kindern Stefanie und Niki sowie Glorias Mutter und dem Nachbarehepaar Jenny und Udo. Nach 17 Jahren on the road als Drogen konsumierender Spieler und vorbestraft, kehrt Mike, als sein erfolgreicher Bruder im Koma liegt, zurück und wirbelt alte und neue Emotionen auf.
Das Besondere an diesem Buch ist das Gemenge aus rhythmisch und melodiös stimmigem Stil, dem Brechen der deutschen Sprache („Hie und da werden Wäschekörbe aus dem Hintereingang geschoben. Ein Rettungswagen parkt sich ein. Ansonsten dead trousers.“), der Integration von Dialekt, österreichischer Politik („Das Schwarzgeld im Plastiksackerl war das Wahrzeichen der alpinen Bestechlichkeit, nicht wegzudenken in der Korruptionsgeschichte der Nation.“), gesellschaftspolitischer Aspekte („Vom Tellerzerdrescher zum Speichellecker. Und weiter. Immer weiter auf der Hühnerleiter.“), bildhafte Sprache („Raubtierfütterung im Küchenzoo.“), poetische Anklänge („Und oben, ganz oben, da zog sich der Himmel langsam seinen Schlafanzug an. Und die Sternlein kamen heraus aus ihren Verstecken und auch der Mond schaltete sich hilfsbereit dazu – KLICK!“), Liedtextzitaten und das Umdrehen von Genderklischees („Prinzen auf der Erbse“) und auch deren kritiklose Tradierung (Ehefrau, Krankenschwester, Kellnerin, Prostituierte). Auch die vielen Handlungswendungen motivieren weiterzulesen. Für Mike dreht sich meist alles ums Ficken. All das und die Leerstellen ergeben ein überzeugendes Ganzes. Der Autor hat Humor und spielerisches Talent.

Obwohl ich viel lachte und mich amüsierte, kommt meine Charakter-Analyse zu einem kritischen Resümee: Der Autor lässt Gloria unter diesen herausfordernden Umständen ihren Willen und ihr Selbstbewusstsein entwickeln und doch: Am Ende steht sie im Krankenhaus zwischen den beiden Brüdern, jeder auf seine Art kriminell, und jeder will sie für sich. Der Autor lässt Gloria wählen, bezeichnet sie als Jägerin, doch teilt er das Ergebnis den Leser:innen nicht mit. „MUSIK“ Er beendet den Roman mit den Worten: „… und rein in alles, was weh tut. Und die größte Freude bereitet. Und jetzt. Schlaf gut.“
Der männliche Blick erweitert sich nicht. Mike ist davon überzeugt, dass Gloria „sein Schwarzes Loch war, in das er verschwinden wollte Forever, Dein Mike …“. Mike wollte kein bürgerliches Familienleben, weswegen er abhaut, um doch 17 Jahre später wiederzukommen, weil er ein solches möchte. Er ist unberechenbar, provokant und auch ein Charmeur. Die Mutter der beiden Brüder wird nie erwähnt, auch nicht deren Vater. Die männliche Heimatsuche endet bei der Frau und nicht bei sich selbst. Manche Täter-Opferumkehr findet statt. Drogen brachten kein Erkennen, doch das wurde eh nicht angestrebt.

Michael Stockinger, dessen Künstlername. Michael Ostrowski ist, studierte Englisch und Französisch, begann ab 1993 als Schauspieler und später als Regisseur, Drehbuchautor und Moderator zu arbeiten.
Zuerst wurde der Film Der Onkel, dessen Premiere im Mai 2022 in Wien stattfand, realisiert. Drehbuch und Regie stammen nach 15 Jahren Vorarbeiten von Helmut Köpping und Michael Ostrowski. Ostrowski spielt die Rolle des Onkels. Danach erst schrieb er das Buch, sein erstes das nun in der bereits dritten Auflage vorliegt.

Der Onkel ist ein großartiges Buch zeitgenössischer Literatur mit großem Potential, es detailreich zu diskutieren und sich darüber gut zu unterhalten.

320 Seiten, geb.

Rowohlt 2022
€ 25,50
ISBN: 978-3-498-00329-6

Abb. https://www.book2look.com/book/9783498003296

März 2023
Rezension
Ilse M. Seifried, MA
https://www.i-m-seifried.at