Rezensionen

Anthony McCarten: Going Zero

Anthony McCarten, 1961 in New Plymouth/Neuseeland geboren, war einige Jahre als Reporter tätig und studierte kreatives Schreiben, ehe er mit 25 Jahren das erfolgreiche Theaterstück ›Ladies Night‹ mit Stephen Sinclair schrieb. Diesem folgten weitere erfolgreiche Theaterstücke, Romane und Drehbücher (Oscar nominiert für ›The Theory of Everything‹ und ›Darkest Hour‹ und ›Bohemian Rhapsody‹) sowie Lyrik, Kurzgeschichten und Sachbücher. Er ist auch als Filmproduzent tätig.

In seinem vorliegenden Buch Going Zero steht das Thema Digitale Überwachung im Zentrum. Kann es gelingen, digital unentdeckt zu bleiben? Die junge Bibliothekarin Kaitlyn aus Boston nimmt mit neun weitere Personen am Projekt der US-Geheimdienste und des Social-Media-Moguls Cy Baxter teil. Ziel ist, 30 Tage unauffindbar zu bleiben. Als Gewinn winken 3 Millionen Dollar.
Die Leser:innen tauchen in die reale Welt der Datenüberwachung ein und bekommen so eine konkrete Vorstellung, was oft sonst zu vage bleibt. Der spannende Thriller beschreibt keine technischen Fiktionen, alle technischen Mittel und Computerprogramme existieren real. Dass Daten von Handy, Kreditkarten, Cookies beim Internet-Surfen gesammelt und analysiert werden, ist bekannt, ebenso sind es die Überwachungskameras im öffentlichen und privaten Räumen. Doch wer weiß schon Bescheid darüber, dass es Drohnen gibt, die aus 7500 Metern Höhe noch detailgenaue Fotos aufnehmen können, dass es die Möglichkeit gibt, über Autokennzeichen auf den Autocomputer zuzugreifen und dass es mit Bodenradar gelingt, Verstecke zu entdecken, dass Beacons das Verkaufsverhalten von Kunden:innen registriert, dass Laser auf Objekte gerichtet, diese zum Mikrofon werden lassen ebenso wie TV-Gerät, die nach 2018 produziert wurden. Überwachung total.

Der Plot, in zwei Teile strukturiert, geht auf und lässt weiterlesen. Auf den ersten 240 Seiten wird die Art des Scheiterns der neun Teilnehmer:innen erzählt, die weiteren 205 Seiten konzentrieren sich auf Kaitlyn, die ein sehr persönliches Motiv für ihre Teilnahme hat und für weitere überraschenden Wendungen sorgt.

Stilistisch bewegt sich dieser Roman an der Oberfläche und im Mittelmaß. Sprachlich wird auf Gender keine Rücksicht genommen, es heißt Hausbewohner und die Cleversten der Cleveren sind nur Ingenieure, Kybernetiker etc., sogar von Kostümträger ist die Rede, was schon sehr erstaunt.
Auch wenn die Personen reichlich blass und ohne psychologische Differenzierung beschrieben sind, kommt Frauen immerhin eine wesentliche handlungs- und Entscheidungsposition zu. Die Bilder sind mäßig originell („er steckte die Profite in immer riskantere Unternehmungen, wie andere auf schnelle Windhunde wetten“, „Dreiundvierzig Kilo Ehrgeiz umhüllen zarte Knochen und, so vermutet er, ein eiskaltes Herz.“, „aufmerksame Augen, tiefbraun wie Zwiebelsuppe“). Es gelingt dem Autor nicht, eine lebendige und authentische Atmosphäre herzustellen.

Allerdings sind auf der Sachebene die vielfältigsten Strategien der Mitstreiter:nnen der Überwachungsmaschinerie zu entgehen, interessant. Wie sich zeigt, auch wenn „mask it“ eine erfolgreiche Technik ist (in Alials gehüllte Daten) sind es menschliche Verhaltensweisen, die zum Scheitern führen.

Dieses Buch macht tagtägliche und spezielle Überwachungspotentiale bewusst. Vielleicht motiviert es auch, zukünftig im Alltag nicht sorglos mit eigenen Daten umzugehen und politische Entscheidungen wahrzunehmen und zivilgesellschaftliche Entscheidungen zu treffen, wo sie noch getroffen werden können. Als Diskussionsthemen dieses Buches sind diese zu nennen, die kurz angeschnitten doch nie ausdiskutiert werden: Was ist unter Polizeistaat, Faschismus, Umerziehungslager, Demokratie, Freiheit, Sicherheit, Machtwille, privater Überwachungskapitalismus, Kontrollzwang, Fakten und Fake, Manupulation und gemeinsame Wirklichkeit bzw. Wahrheiten zu verstehen, wo und welche Trennlinien werden gezogen bzw. sollten besser gezogen werden und wie Unsicherheiten und Verletzlichkeit meist bewertet werden. Und stimmt es, dass Beobachtet-Werden sich ein klein wenig wie Geliebt zu werden anfühlt?

Good News in der Realwelt sind, dass nach 10 Jahren Prozessdauer im Mai 2023 die bisher höchste Strafe nach der DSGVO gegen Meta verhängt. Das Inkrafttreten der DSGVO jährt sich zu 5. Mal. Ich empfehle die Site von Max Schrems https://noyb.eu, denn diese bietet eine Möglichkeit, sich konkret für mehr Freiheit und gegen Überwachung und Datenklau zu informieren und zu engagieren.
Was es bedeutet, dass Elon Musk für sein Unternehmen Neuralink nach eigenen Angaben im Mai 2023 von den US-Behörden die Zulassung zu Tests von Computerchips im menschlichen Gehirn erhalten hat, muss politisch diskutiert werden ebenso, was Datenlacks und bewusste Enthüllungen für Demokratien bedeutet.

Für Thriller-Liebhaber:innen verweise ich auf den packenden Thriller über die Computerintelligenz Winston in Origin von Dan Brown, der 2017 publiziert wurde. Solche Romane tragen dazu bei, keine neuen Verschwörungsgeschichten zu verbreiten, sondern, dass das hochkomplexe Thema Digitale Überwachung in der breiten Bevölkerung verständlich und nachvollziehbar ankommt und diese sensibilisiert.
Going Zero ist ein spannendes und empfehlenswertes Buch für Maturant:innen und alle Interessierten ohne literarische Ansprüche.

Juni 2023
Rezension
Ilse M. Seifried, MA
https://www.i-m-seifried.at

Abb.: https://www.diogenes.ch/leser/titel/anthony-mccarten/going-zero-9783257071924.html

Roman, aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Hardcover Leinen
464 Seiten
Diogenes 2023
ISBN 978-3-257-07192-4
€ 25.70