Mit Sprache und Sprachstilen waren und sind wir alle konfrontiert, ob wir es wollen oder nicht. Wir hören populistische Politiker:innen und Menschen, die sexistische, rassistische und andere diskriminierende Sprachformen verwenden. Wir hören nicht nur, wir lesen auch Wahlplakate, Werbungen und Nachrichten.
Die Autoren Simon Sahner, Literatur- und Kulturwissenschaftler und Daniel Stähr, Ökonom und Essayist, haben die Sprache unter dem Aspekt des Kapitalismus analysiert und legen ein leichtverständlich geschriebenes Buch vor, das faktenbasiert sehr zum Nachdenken anregt. Sie weisen darauf hin, dass Sprache Realitäten schafft und auf diese Auswirkungen.
Der Text macht bewusst, was im Alltag meist automatisiert und unbewusst sprachlich abläuft. Viele Probleme der Welt in der Gegenwart beruhen auf einem ungerechten Miteinander, das auch durch Sprache und Machtstrukturen tradiert und aufrechterhalten wird. Ein Beispiel, so simple wie wirksam, ist die Redewendung „die Preise sind gestiegen“. Aber Preise steigen ja nichtvon sich aus, sie werden von Menschen erhöht.
Ökonom:innen, Unternehmer:innen und Politiker:innen greifen zu oft bewusst zu Formulierungen, die Wähler:innen und Konsument:innen täuschen, indem sie Naturkräfte mit Aspekten der Finanzpolitik gleichsetzen, indem sie einen Börsencrash als Tsunami bezeichnen, als wäre der Zusammenbruch nicht menschengemacht. Diese Täuschungen werden im Buch anhand vieler Beispiele nachvollziehbar offengelegt.
Allem vorangestellt haben die beiden Autoren dieses Zitat von Henry Louis Mencken„Es gibt Erklärungen. Es gab sie schon immer; für jedes Menschheitsproblem gibt es eine bekannte Lösung – passend, plausibel, und falsch.“ Es macht bewusst, dass die Welt nicht linear, sondern vielfältig, mehrschichtig und sehr komplex ist und nicht monokausal funktioniert.
Am Beginn steht die Definition: „Als Sprache des Kapitalismus bezeichnen wir bestimmte Sprachbilder und Metaphern, Redewendungen und Phrasen, Mythen und Erzählungen sowie einzelne Begriffe, mit denen ökonomische Zusammenhänge beschrieben und erzählt werden. “ (S. 8) Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, oft wird vergessen, dass Sprache auch Handeln ist! „Wenn wir immer nur von Ärzten und Krankenschwestern sprechen statt von Ärzt*innen und Pflegekräften, sind Menschen in weißen Kitteln und hoher Position in Krankenhäusern in unserer Vorstellung männlich und Menschen, die Pflegearbeit leisten, weiblich. Diese Vorstellungen beeinflussen unser Denken und Handeln.“ (S. 10)
Sprache durchdringt alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens. Die Trennung von Arbeits- und Privatleben kann individuell größer oder geringer sein, doch individuellen Entscheidungen und gesellschaftlichen Fragen werden über Sprache ausgehandelt. Wer kann von sich behaupten, nicht im Kapitalismus sozialisiert worden zu sein? „Wir alle sprechen die Sprache des Kapitalismus, erzählen seine Geschichten und merken es teilweise nicht einmal. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, die Sprache des Kapitalismus zu verstehen.“ (S. 12) Doch nicht nur die Sprache, auch Strukturen prägen, stabilisieren und ermöglichen oder verhindern. Immer gilt es die Frage zu stellen: Wer profitiert von diesen Strukturen, von dieser Sprache und welche Ideologien verbergen sich in diesen? Welche Ideologie verbirgt sich beispielsweise in der Einteilung von Arbeits- und Freizeit? „Der Kapitalismus durchdringt alle Bereiche unseres Lebens, er macht selbst vor jener Zeit nicht halt, die uns am privatesten erscheint: der Zeit, in der wir schlafen. Wer viel schläft, hat weniger Zeit, produktiv zu sein, als derjenige, der wenig schläft.“ (S. 16)
Es werden auch viele Detailaspekte angesprochen wie beispielsweise die Statistik. Exemplarisch folgendes Zitat: „Die Fünf-Prozent-Grenze ist absolut willkürlich. Es gibt keine wissenschaftliche Begründung dafür, dass diese Grenze nicht bei 2,5 Prozent oder 25 Prozent liegen sollte. Und dennoch wird in großen Teilen der empirischen Forschung quasireligiös an dieser Schwelle festgehalten. Der Blick wird in die statistischen Signifikanz-Sterne gerichtet, um zu entscheiden, was ein relevantes Ergebnis ist und was nicht.“ (S. 134) Statistische Signifikanz ist nicht automatisch gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Relevanz und einem wirklich bedeutenden Effekt, weil es auch wichtig ist, herauszufinden, wieso diese Relevanz in den anderen Fällen nicht eintritt. Lesen Sie selbst weiter!
Nicht nur Sprachanalysen, auch Dekonstruktionen von Narrativen werden vermittelt. Welche Erzählungen sind mit dem »Rettungsschirm« verbunden und welche Konsequenzen hat für Arbeitnehmer:innen und Steuerzahler:innen, wenn sie der Erzählung von »too big to fail« Glauben schenken? Narrative wurden und werden geschaffen, um das Gefühl einer kapitalistischen Alternativlosigkeit zu bewirken. Diese wird von den Autoren in Selbstermächtigung verwandelt, die zahlreiche Aha-Erlebnisse auslösen. Das siebente und letzte Kapitel lautet „der Weg zu einer Sprache des Postkapitalismus“.
Das Ziel der Autoren Sahner und Stähr, sich über mögliche Alternativen einer kapitalistischen Lebensweise Gedanken zu machen, haben sie mit Bravour erreicht. Ein gerechtes Wirtschaftssystem bedeutet auch, die Welt nicht Ökonom*innen, Politiker*innen und Unternehmer*innen zu überlassen, sondern sich selbst aktiv einzubringen.
Der erste Schritt ist, nicht länger die Sprache des Kapitalismus zu sprechen, der zweite ist mit dem ersten verbunden, nämlich damit bereits zu handeln und somit anders zu denken. Der dritten Schritt umfasst dann alle anderen Lebensbereiche.
Die Autoren schließen mit den Worten: „Wir können es uns angesichts der gigantischen Herausforderungen, vor denen wir im 21. Jahrhundert stehen, nicht mehr leisten, diese Komplexität sprachlich zu ignorieren. Dieses Buch wird den Kapitalismus nicht überwinden. Aber es ist ein Anfang, wenn wir verstehen, welchen unglaublichen Unterschied es macht, ob Preise steigen oder erhöht werden. Deswegen ist unsere Forderung so einfach wie radikal: Wir müssen die Sprache des Kapitalismus überwinden. Und wir müssen jetzt damit anfangen.“ (S. 268)
Die vorliegenden 304 Seiten sind flüssig zu lesen. Die angefügten umfangreichen Quellen und Anmerkungen sind für alle, die sich ins Thema differenziert vertiefen wollen, interessant und hilfreich. Es ist gut, immer wieder innezuhalten, um das Gelesene auf sich wirken zu lassen und auf den konkreten Alltag zu beziehen. Jeder Austausch mit Mitmenschen regt an und unterstützt, Impulse umzusetzen und Wissen anzuwenden. Es verändert sich die Welt, wenn alles als das benannt wird, was es ist.
Dieses gelungene Buch empfehle ich allen Unterrichtenden, Lernenden, allen Interessierten und allen, die sich selbst und das Weltgeschehen reflektieren oder auch nur einen anderen Blickwinkel einnehmen wollen sowie allen Schreibenden.
Sahner und Stähr gelingt es, auch all jenen, die von Wirtschaft nicht viel oder gar keine Ahnung haben, ohne Anstrengung Denktüren zu öffnen. All jene Leser:innen, die sich bereits mit Wirtschaftssystemen und Sprache beschäftigten, ermöglicht dieses Buch, eine neue Sensibilität zu entwickeln. Damit leisten die Autoren eine sehr wichtige und großartige Übersetzungs- und Bewusstseinsarbeit.
304 Seiten
S. Fischer 2024
€ 25,50
ISBN 978-3-10-397593-2
Okt. 2024
Rezension
Ilse M. Seifried, MA
https://www.i-m-seifried.at