Rezensionen

Weibliche Unsichtbarkeit – Wie alles begann

Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit – Wie alles begann

übersetzt aus dem Franz.: Stephanie Singh
147 Seiten, geb. (auch al e-Book erhältlich)
Hanser 2021
ISBN 9783446271005
€ 24,95

 Abb. https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/weibliche-unsichtbarkeit/978-3-446-27100-5/

Marylène Patou-Mathis, in Paris geboren 1955, ist Ur- und Frühhistorikerin mit dem feministischen Anliegen, „Wissen zu vermitteln, wie Frauen die Geschichte prägten – und warum wir nichts davon wissen“. Auch 2022 ist solch ein Buch eine dringende Notwendigkeit und begrüßenswert.

Irritierend allerdings ist für mich der Untertitel: „Wie alles begann.“, denn dies impliziert, dass alles einen Ausgangspunkt hat, womit Diversität und Ambiguität nicht in Betracht gezogen werden. Weiters stolpere ich über das Zitat, das die Autorin ihrem Buch voranstellt: „Ich kritisiere die Männer nicht. Ich kritisiere eine 2000-jährige Zivilisation, die den Männern die Hypothek von falscher Männlichkeit und Imponiergehabe auferlegt hat.“ Wie bitte soll das verstanden werden? Welches Weltbild liegt dieser Aussage zugrunde? Worum spielen Frauen auch hier keine Rolle und sind unsichtbar?

Das Buch gliedert sich nach der Einleitung in 12 Kapitel: Die prähistorische Frau in der Literatur   / Die Entstehung der Urgeschichte als wissenschaftliche Disziplin / Die prähistorische Frau im Licht neuer Erkenntnisse der Geschlechterarchäologie / Frauen im Paläolithikum / Frauen im Neolithikum und in der Metallzeit / Ewige Rebellinnen / Von der Antike zum Mittelalter / Von der Renaissance bis zum Zeitalter der Aufklärung / In den Wirren der Revolution / Die »Frauen von 1848« / Das 20. Jahrhundert und schließt mit dem Nachwort: Frauen und Feminismus – gestern und heute, das sie mit den Worten beginnt: „Wir stehen am Beginn einer Revolution. Vom Wikingerhäuptling, der sich als Frau herausstellte, über die prähistorischen Künstlerinnen, deren Arbeiten durch die jüngsten archäologischen Forschungen belegt sind, bis zu den skythischen Amazonen haben sich klischeehafte Vorstellungen über Rollenverteilung und Geschlechter in Luft aufgelöst. Vor allem die Geschlechterarchäologie hat sich das Ziel gesetzt, sexistische, eher ideologische als wissenschaftliche Argumentationen zu dekonstruieren. Sie steht damit noch ganz am Anfang. Die Tür ist aufgestoßen und wird sich erst schließen, wenn die Frau ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte gefunden hat.“ (S191)

Mit Leichtigkeit liest sich der Text, der nachvollziehbar und verständlich verfasst ist. Eine kurze Geschichte von Seximus in der Wissenschaft, die bewusst macht, wie mühsam diese Dekonstruktionsarbeit war und wie wichtig es ist, an dieser weiter zu arbeiten. Die reproduzierten Klischees zu lesen veranschaulichen konkret, was meist im Geschichtsunterricht zu wenig reflektiert wird. Frauen aus ihrer Unsichtbarkeit in den Fokus stellen, sowohl jene der Vergangenheit wie der Gegenwart sollte immer und überall ausreichend geschehen. In manchen ihrer Wortwahl und Formulierungen wie auch in der Auflistung: Überblick über die großen Epochen der menschlichen Evolution, wo sie von „Herrschaft über das Feuer“ spricht, bleibt die Autorin (oder Übersetzerin?) allerdings patriarchalem Sprachgebrauch verbunden.

Hätte sie doch ihren Satz des Nachworts: „Je mehr wir über die Urgeschichte wissen, umso mehr zeigt sich, dass das Patriarchat keinerlei anthropologische Grundlage hat.“ ihrem Buch voranstellte!
Patou-Mathis endet mit: „Das Patriarchat muss durch ein neues System ersetzt werden, das es gemeinsam zu schaffen gilt.“ und lässt dieses offen, ohne eine Utopie zu formulieren oder auf gegenwärtige Ansätze einzugehen.

Dieses Buch ist ein guter Einstieg ins Thema, eine gute Diskussionsgrundlage und ein Impuls, sich vertiefend und differenzierter mit Gender in Wissenschaft und Alltag zu befassen.

Rezension:
Ilse M. Seifried, MA   März 2022
http://www.i-m-seifried.at